von Prof. Dr. Michael Breidenbach, Dr. Mag. Elisabeth Kapferer
Wie wirkt sich Stress auf unser Zusammenleben aus und wie beeinflusst Stress die Zellaktivität des Körpers? Fest steht, Stress kann für eine Vielzahl von Krankheiten wie Herzinfarkte oder Depressionen verantwortlich sein. Auch Armut führt zu Stressbelastung.
Das zur Zeit im Druck befindliche und am 25. August 2021 erscheinende Buch „Stress and Poverty“ wurde von drei Wissenschaftlern der Universität Salzburg verfasst. In dieser interdisziplinären Untersuchung wird das Phänomen Stress auf dem Niveau der einzelnen Zelle, des Menschen und der menschlichen Gesellschaft behandelt. Ziel der Forscher war es dabei, eine Brücke zu schlagen zwischen den Stress-Phänomenen auf zellulärem Niveau, auf dem Niveau der Person, die dem Stress in unserer modernen Welt ausgesetzt ist, und der Auswirkung der Stressbelastung auf das Zusammenleben, also das soziale Gefüge in unserer Welt. Paradoxerweise ist trotz stetiger Erhöhung der Arbeitsproduktivität die Armut und Ungleichheit der Einkommens- und Lebensbedingungen in den letzten Jahrzehnten gestiegen, was wesentlich zur Stressbelastung beiträgt. Daher ist ein zentrales Thema des Buches auch eine Erforschung der Stressbelastung durch Armut, wie sie sich in der heutigen Welt präsentiert und wie sie – statistisch abgesichert – zu einer signifikanten Erhöhung der Inzidenz einer Reihe von Krankheiten und zu einer Verkürzung der Lebenserwartung führt.
„general adaptation syndrome“
Die moderne Stressforschung wurde als medizinisch-endokrinologische Disziplin in den 1930er Jahren des 20. Jahrhunderts von dem Altösterreicher Hans Selye begründet. Selye, der den größten Teil seiner wissenschaftlichen Karriere in Montreal verbrachte, nannte das von ihm entdeckte medizinische Syndrom „general adaptation syndrome“, „allgemeines Anpassungssydrom“. Gemeint ist damit, dass bei einer Belastung durch einen Schock oder durch einen lang andauernden chronischen Stress der Organismus nicht zum Grundzustand zurückfindet, sondern sowohl psychisch (neurologisch) als auch endokrinologisch in einem pathogenen Zustand gerät, der sich langfristig zu schweren Organschäden (sogar bis zum Tod) entwickeln kann. Typische (aber nicht die einzigen) Krankheitsbilder sind schwere Depression und Herzkrankheiten. Die typische (aber nicht die einzige) endokrinologische Fehlfunktion ist die Überaktivität der sogenannten HPA Achse (hypothalamic-pituitary-adrenal axis), also des Stress-Regelkreises von Hypothalamus, Hypophyse und Nebennierenrinde. Diese Überaktivität führt zu einer Überproduktion der Stresshormone, wie zum Beispiel Cortisol, dem Stresshormon der Nebennierenrinde. Selye sprach von einem „allgemeinen“ Anpassungssyndrom, weil dieser klar beschriebene Zustand in ganz ähnlicher Weise unabhängig von der Art des Stresses bei den Patienten, aber auch im Tierversuch beobachtet wurde.
Zellen reagieren mit Abwehrenzymen
Die molekularbiologische und zellbiologische Forschung der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, dass die Stressantwort ein Merkmal aller lebenden Zellen ist, in besonderem Maße seit der Entstehung des Sauerstoffs auf der Welt, in Form der Antwort auf oxidativen Stress. Die charakteristischen Vorgänge der Stressantwort sind in ihren biochemischen Details bei allen lebenden Zellen ähnlich, sie bestehen aus einem komplexen Netzwerk der Regulation der Genexpression, das zu einer abgestimmten Produktion von Abwehrenzymen (Beispiel Superoxiddismutase) und Signalstoffen (Beispiel Stresshormone) führt. Die adäquate Reaktion auf Stress erfordert eine intensive Zusammenarbeit des Nervensystems (besonders des autonomen Nervensystems) und des Hormonsystems. Die Stressantwort kann zu einer Verstärkung der Abwehr in zukünftigen Stress-Situationen führen (von Selye „Eustress“ genannt), aber auch zu einer pathologischen Reaktion, die zur Krankheit führt („Disstress“ oder „toxischer Stress“). Der Zusammenhang von toxischem Stress und dem neuronalen Geschehen ist vor allem dadurch gegeben, dass der psychologische Stress in den Neuronen des Hypothalamus (und andere Areale des Gehirns) zu einer Überaktivität und in der Folge zu einem Verlust der neuronalen Plastizität und schließlich zum Zelltod durch Apoptose führt, der eine Folge von oxidativem Stress in eben diesen Neuronen ist.
Identitätsprobleme fördern Stress
Die Messung und Quantifizierung von Stress kann mit biochemischen Methoden im Blutserum oder auch im Speichel durchgeführt werden. Ebenso wichtig ist aber die Messung mit Hilfe von experimentell psychologischen und soziologischen Methoden. Dabei soll unter anderem ein Maß für die subjektiv gefühlte Stress-Intensität definiert werden. Es fällt auf, dass subjektiver Stress und biochemisch gemessener Stress gut korreliert sind. Die psychologischen Methoden zeigen, dass toxischer Stress eine wesentliche emotionale Komponente enthält. Der stärkste subjektive Stress entsteht dann, wenn die soziale Identität der Person gefährdet ist. Dies kann zum Beispiel gegeben sein, wenn vor einem Publikum ein Vortrag gehalten werden muss, der dann durch das Publikum beurteilt wird – ein Szenario, das in der experimentellen Forschung häufig als Methode verwendet wird. Eine andere ebenso wichtige Methode besteht darin, mit Hilfe von Fragebögen Stress auslösende Situationen während des vergangenen Lebensjahres zu erheben, die in Summe zu einer Stressbelastung führen. Die zahlreichen Erhebungen auf diesem Gebiet zeigen eine Abstufung stressauslösender Ereignisse, wie zum Beispiel Verlust eines Partners oder nahestehenden Menschen, Scheidung, Arbeitslosigkeit oder drohender Verlust der Arbeit, familiäre Streitigkeiten, häusliche Gewalt und vieles andere mehr. Auffallend ist der unerwartet hohe Einfluss von Lärm auf psychosomatische Erkrankungen – etwa aufgrund eines entsprechenden Arbeitsumfelds oder einer Wohnsituation in der Nähe eines Flughafens, an einer verkehrsbelasteten Hauptverkehrsader oder in einer benachteiligten Nachbarschaft. Menschen, die von Armut betroffen sind, sind überdurchschnittlich häufig mit stressauslösenden Ereignissen und Umständen konfrontiert.
Resilienz und Vulnerabilität
Ein wichtiger Teil der Stressforschung widmet sich der Erforschung von Resilienz und Vulnerabilität. Es fällt auf, dass Personen, die hinsichtlich ihres Armutsstatus und ihrer persönlichen Geschichte durchaus ähnlich sind, trotzdem in ihrer Reaktion auf Stress sehr verschieden sein können. Resilienz meint die Fähigkeit, nicht nur den akuten Stress zu ertragen, sondern vor allem nach einer relativ kurzen Zeit nach Beendigung der stressreichen Situation wieder zum Normalzustand zurückkehren zu können. Resilienz meint auch, trotz widriger Umstände (etwa Armut) gedeihen zu können. Personen, die diese Fähigkeit nicht im ausreichenden Maß besitzen, bezeichnen wir als vulnerabel, und die stress-bedingten Krankheitsfolgen sind bedeutend (zB. PTSD, posttraumatic stress disorder). Resiliente Personen schaffen die Rückkehr in eine „Normalität“. Resilienz ist dabei nicht bloß eine statische „Eigenschaft“, sondern steht wiederum in enger Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.