ÄrztInnen sind verpflichtet, Ihre PatientInnen in jeder Hinsicht rechtskonform und rechtssicher zu beraten, auch in der Frage, ob man seine Erkrankung im Bewerbungsgespräch nennen muss. - Doch was, wenn die Gesetzeslage hier keine konkreten Vorgaben erteilt und die Klärung der Rechte und Verpflichtungen den Gerichten überlassen ist? – Eine prekäre Situation mit Diskriminierung als Konsequenz.
Es bedarf daher verbindlicher leicht zugänglicher gesetzlicher Vorgaben, die bundesweit verlässlich zur rechtssicheren Beratung herangezogen werden können. Dazu eine medizinische Analyse und Lösungsvorschläge.
Die ärztliche Beratung
„Frau Doktor, wann darf ich bei Epilepsie wieder Auto fahren?“ – Zur Beantwortung dieser Frage benötigen Ärzte in der Regel weniger als fünf Minuten, da die Führerscheingesetz-Gesundheitsverordnung (FSG-GV) eine rasche und rechtssichere Beratung erlaubt. „Rechtssicher“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Patienten bei Befolgung des ärztlichen Rats keinerlei nachteilige juridischen Konsequenzen zu erwarten haben. – „Herr Doktor, muss ich meine Epilepsie im Bewerbungsgespräch mitteilen?“ – Im krassen Gegensatz zur ersten Frage ist die zweite in Österreich schlichtweg nicht rechtssicher beantwortbar, da zwar gesetzliche Rahmenbedingungen existieren, die Einzelfallentscheidung jedoch den Gerichten überlassen wird. Menschen mit Epilepsie können sich aufwändige langwierige Gerichtsprozesse jedoch emotional und ressourcenbezogen nicht leisten. Patienten benötigen deshalb rechtssichere Information und Beratung bereits vor dem Bewerbungsgespräch. Ärzte können ihrer Verpflichtung zur Beratung nicht nachkommen, woraus sich eine desaströse Situation für alle NeurologInnen und ÄrztInnen für Allgemeinmedizin sowie deren Patienten ergibt. Bei der Gewinnung einer Anstellung handelt es sich jedoch um einen lebenswichtigen Aspekt ähnlich der Akquirierung einer Unterkunft oder Einkauf von Lebensmitteln. Über die finanzielle Absicherung hinausgehend wird ein erheblicher Teil von Lebensqualität durch Arbeit generiert.
Das Dilemma im Bewerbungsgespräch
Auf der einen Seite wird durch den §27 Angestelltengesetz (AngG) Druck auf die BewerberIn ausgeübt, sich stets vertrauenswürdig gegenüber der ArbeitgeberIn zu verhalten. Dieses an sich sehr gute Prinzip kann jedoch – weil ohne konkrete Regelung – das Nennen von Epilepsie im Bewerbungsgespräch beinhalten. Die Verletzung dieses Vertrauensprinzips stellt einen Grund zur fristlosen Entlassung dar. Nun könnte argumentiert werden, dass dann einfach alle Menschen mit Epilepsie ihre Erkrankung mitteilen sollen. Dem stehen drei wichtige Argumente entgegen:
1 Die Mitteilung von Epilepsie bedeutet oft ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Bewerbungsprozess. Die Nennung von Epilepsie kann derart von den fachlichen Qualifikationen ablenken, dass es zu einer Benachteiligung bei der Job-Vergabe kommt.
2 Wo sind die Grenzen? Soll auch erhöhter Blutdruck mitgeteilt werden, weil man am Arbeitsplatz einen Schlaganfall oder Herzinfarkt erleiden könnte?
3 Das Wertesystem unserer Gesellschaft sieht Verhältnismäßigkeit vor. Der BewerberIn wird eine Privatsphäre zugestanden, wenn die private Information mit der beruflichen Tätigkeit in keinem Zusammenhang steht. Allerdings gibt es keinerlei Richtlinien, diesen Zusammenhang im Vorhinein abzuschätzen oder zu evaluieren, weder für die Arbeitgeber und Bewerber, noch für Ärzte oder Richter.
Gefahren am Arbeitsplatz
„Aber im Rahmen eines Anfalles am Arbeitsplatz können doch gesundheitliche Schäden bei dem Menschen mit Epilepsie oder umstehenden Personen auftreten?“ könnte eingewendet werden. Bezüglich der konkreten Gefahren im gesamten Spektrum der Arbeitsplätze differenziert der Gesetzgeber aus medizinischer Sicht nicht ausreichend, ein Versäumnis mit potenziell großen Auswirkungen. Dadurch wird eine im Büro tätige Person (ArchitektIn, SekretärIn) in Bezug auf Gesundheitsgefährdung einem Kranführer oder einer an einer Maschine mit rotierenden Teilen tätigen Person gleichgestellt. Eine Tätigkeit im Büro ist aus medizinischer Sicht jedoch ungefährlich, denn sie entspricht vom Standpunkt der Gefahrenanalyse einem Theaterbesuch, einer Zugfahrt oder der Wahrnehmung eines Behördentermins. Unsere Gesellschaft steht für maximale Teilhabe und der Vermeidung von Ausgrenzung und Ungleichbehandlung.
Weiterentwicklungen des ArbeitnehmerInnenschutzes erscheinen ungenügend berücksichtigt: heutzutage bestehen beispielsweise komplett ummantelte Drehmaschinen, bei denen jedweder epileptische Anfall auftreten könnte, ohne dass irgendeine Person Schaden nehmen könnte. Eine Feinabstufung im Gesetzestext ist nicht eruierbar. Ziel wäre es somit, die Bewerbung um Berufe ohne gesundheitliches oder finanzielles Risiko aus den undifferenzierten Zwängen des §27AngG zu lösen bzw. präzise zu regeln.
Hilft das Behinderteneinstellungsgesetz?
Epilepsie kann mit besonderen Bedürfnissen (im Gesetzestext: „Behinderung“) einhergehen, muss sie aber nicht. Von allen Menschen mit Epilepsie zu verlangen, sich um einen „Behinderten“-Status zu bemühen, um an geschützten Arbeitsplätzen unterzukommen, ist als Generalmaßnahme ungeeignet, weil sehr viele Menschen mit Epilepsie keinerlei Behinderung gemäß Gesetz aufweisen. Im Speziellen darf eine „Behinderung“ oder Diskriminierung nicht erst durch Gesetze oder deren Fehlen zustande kommen.
Lösungsansatz 1: Die Einstufung der Gefahren am Arbeitsplatz
Kernelement ist die Herstellung von Verhältnismäßigkeit der gesetzlichen Konsequenzen zu den realen Gefahrensituationen der ArbeitnehmerInnen. Vom Gesetzgeber bzw. der Behörde sollten als Ergänzung des ArbeitnehmerInnenschutzgesetzes bzw. per Erlass fünf Kategorien von Arbeitsplätzen definiert werden.
1 G0 („G null“) - keinerlei gesundheitsrelevante Gefahren und keine Arbeit mit Bargeld. Freiheit von gesundheitsrelevanten Gefahren bedeutet, dass weder für den Menschen mit Epilepsie, seine Mitarbeiter*innen, die Arbeitgeber oder die Kundschaft eine Gefahr durch das Auftreten eines Anfalles am Arbeitsplatz ausgeht.
2 G1: Arbeit mit Bargeld, aber ohne Gesundheitsgefährdung.
3 Wenn die Arbeit mit Bargeld vom ArbeitgeberIn durch organisatorische Maßnahmen verbessert werden kann bzw. schließlich hingenommen wird, z.B. weil stets mehrere Verkäufer*innen im Kassenbereich tätig sind oder es sich üblicherweise um kleine Bargeldbeträgen handelt, besteht G1-0 („G eins null“).
4 G2: es besteht eine mögliche Gesundheitsgefährdung am Arbeitsplatz für die ArbeitnehmerIn, die ArbeitergeberIn, die MitarbeiterInnen oder die Kundschaft, z.B. DachdeckerIn, KranführerIn, ArbeiterIn in Industrieanlagen mit rotierenden Teilen. Die vom Sozialministerium unter Mitwirkung von Epileptologen erarbeitete Broschüre „Epilepsie und Arbeit“ (2013) gestattet bei konkreten Epilepsiesyndromen die Arbeitsplatzbewertung u.a. in der Industrie (entsprechend G2).
5 Wenn durch Maßnahmen wie z.B. der vollständigen Umhüllung einer Fräsmaschine keinerlei Gesundheitsfahren für irgendeine Person im näheren Arbeitsumfeld ausgeht, wird dies als G2-0
(„G zwei null“) eingestuft.
Das G-System erlaubt somit die zahlenmäßig überwiegende Anzahl unbedenklicher Arbeitsplätze (G0, G1-0, G2-0) als solche zu erfassen. Insbesondere für diese sollte der Gesetzgeber festlegen, dass gesundheitliche Fragen durch die ArbeitgeberIn während des Bewerbungsgespräches unzulässig sind. Es ergibt sich jedoch eine weitere wichtige Option:
Lösungsansatz 2: Trennung der medizinischen von der arbeitsplatzspezifischen Information
Konkret wird medizinische Information nur mehr ArbeitsmedizinerInnen zugänglich, die in Kenntnis des Arbeitsplatzes und der konkreten betrieblichen Erfordernisse die BewerberIn als „geeignet“, „bedingt geeignet“ (bei Möglichkeiten der Arbeitsplatzanpassung) oder als „nicht geeignet“ einstufen. Medizinische Details werden keinesfalls mündlich oder schriftlich der Arbeitgeber*in kommuniziert („Kompartimentmodell medizinischer Information im Bewerbungsgespräch“).
Wie es praktisch funktionieren könnte
Sollte der Gesetzgeber die Arbeitsplatzkategorien (G-System) implementieren, wären ärztliche Beratungen rasch und rechtssicher möglich. Da der Gesetzgeber z.B. Sekretariatsarbeit als G0 definiert hätte, dürfte eine mit Sekretariatstätigkeiten befasste Person die bestehende Epilepsie im Bewerbungsgespräch und in der Zeit danach rechtmäßig verschweigen oder eine diesbezügliche Frage auch wahrheitswidrig beantworten, da die zugehörige Frage bereits unzulässig war. Bei potenzieller Gesundheitsgefahr (G2) ist die Mitteilung aller relevanten Gesundheitsdaten an die ArbeitsmedizinerIn (jedoch nur an diese) wahrheitspflichtig:
Behandelnde NeurologIn: „Frau Huber, Sie haben sich als Sekretärin beworben. Dies entspricht einer Tätigkeit G0, weshalb Sie ihre Epilepsie im Bewerbungsgespräch und danach nicht nennen müssen.“ oder: „Herr Maier, Sie arbeiten als Schlosser in einem metallverarbeitenden Betrieb mit Schmelztiegeln und Schweißgeräten. Hier ist eine arbeitsmedizinische Beratung notwendig. Sie sind zur wahrheitsgemäßen Mitteilung Ihrer Gesundheitsdaten an die ArbeitsmedizinerIn verpflichtet, auf keinen Fall jedoch an eine Nennung im Bewerbungsgespräch, das nur Ihre fachlichen Qualitäten zum Inhalt hat. Nehmen Sie meinen Bericht über Ihr Epilepsiesyndrom, die Art Ihrer Anfälle und deren Häufigkeit zur arbeitsmedizinischen Begutachtung mit.“
Auch Stellenausschreibungen könnten das G-System verwenden, damit sich Menschen mit Epilepsie zwanglos bewerben können (z.B.: „Verkäufer/in für Filiale einer Blumenhandelskette gesucht, Teilzeit möglich. G1-0“; „Schlosser für Dreh- und Fräsarbeiten gesucht, G2-0“, „Elektriker für Arbeitsvorbereitung gesucht, G0“).
Wichtig ist, dass Menschen mit Epilepsie ihre Erkrankung jederzeit aus freien Stücken ihrer ArbeitgeberIn und ihren MitarbeiterInnen bekanntgeben dürfen, wenn sie dies möchten, jedoch bestünde hierzu im Falle einer Implementierung des G-Systems und des Kompartimentmodells keinerlei gesetzliche Zwangssituation mehr.
Standpunkt der WHO
Die Weltgesundheitsorganisation hat in ihrem Intersectoral Global Action Plan (IGAP) im Ziel 5.2 vorgesehen, dass 80 % der Staaten bis 2031 ihre Gesetzgebung hinsichtlich Diskriminierung von Menschen mit Epilepsie bereinigt haben.
Statistik Austria
Eine Erhebung der Häufigkeiten der jeweiligen Gefahrenkategorien im Spektrum der Arbeitsplätze ist in den derzeitigen Erhebungen der Statistik Austria nicht enthalten. Die Erhebung der Häufigkeit der Gefahrenkategorien im Rahmen eines Mikrozensus liegt im öffentlichen Interesse und sollte von den zuständigen Ministerien in Auftrag gegeben werden.
Ein sozialpartnerschaftlicher Ansatz
Die Arbeitgeberseite profitiert ebenso von klaren Verhältnissen, die Abläufe können effizient und unmissverständlich ausgerichtet werden. Auch für die Arbeitgeberseite entsteht durch die Zwischenschaltung der ArbeitsmedizinerInnen Rechtssicherheit. Ein stark erhöhter Bedarf an ArbeitsmedizinerInnen ist aufgrund des hohen Anteils von G0, G1-0 sowie G2-0 nicht zu erwarten. In einer Interviewstudie an Salzburger Personalverantwortlichen wurde erhoben, dass Menschen mit Epilepsie sehr wohl an gefahrenfreien Plätzen arbeiten können. Eine etablierte Unternehmenskultur sowie ausgebildete Ersthelfer machen dies zu einer gut umsetzbaren Strategie.
Resümee
Nein, die medizinische Informationsabfrage im Rahmen von Bewerbungsprozessen ist nicht ausreichend gesetzlich geregelt. Valide Lösungsansätze liegen jedoch zur Umsetzung bereit. Von höchster Dringlichkeit ist die Generierung von Regularien, die eine rasche und rechtssichere Beratung von BewerberInnen durch ÄrztInnen ermöglichen. Das Konzept erscheint nicht nur für Epilepsie geeignet, sondern für eine Vielzahl weiterer neurologischer und nicht-neurologischer Erkrankungen an der sensiblen Schnittstelle von Medizin, Arbeit und Recht.
Markus Leitinger